Von München nach Venedig

Von München nach Venedig
Von München nach Venedig!

– schreibt Jürgen im schneeigen Januar 2006 in Berlin –

Vom 7. August bis zum 3. September 2005 habe ich mich auf eine lange Wanderung über die Alpen begeben. “Traumpfad”, “Kult-Route” wird dieser lange Fußweg schon genannt, ca. 550 km. 4 Wochen wandern, ohne Pausentage. Elektrisiert hatte mich das inzwischen berühmte Buch von Ludwig Graßler “Zu Fuß über die Alpen”. Da waren wir gerade von unserer Annapurna-Umrundung heimgekehrt, ich war begeistert von dieser so abgelegenen hohen Bergwelt, und dabei kannte der Flachländer und Großstädter J.K. die Alpen noch nicht.

Die Art, wie Graßler über “seinen” Traumpfad erzählt, wie er Fauna, Flora, Menschen, Geologie usw. mit hineinnimmt in das Gesamterlebnis des langen Bergwanderns, wie auch für ihn nicht das Höchste, Schnellste, Weiteste wichtig ist, sondern das “Wie” des ständigen Erlebens beim Laufen, hat mich gefesselt. Dazu kam für mich die faszinierende Vorstellung, mitten in einer Großstadt (Marienplatz München) zu einer so ausgedehnten Wanderung aufzubrechen und – entgegen allen Gepflogenheiten unserer Zivilisation – ohne Flugzeug, Bahn, Auto, nur auf den eigenen Füßen das weitentfernte Ziel (Markusplatz Venedig) über ziemlich widriges Gelände (also die Alpen) zu erreichen. Und was für ein Ziel: ich liebe Venedig, für mich die schönste Stadt unserer Erde. Auf die zuzuwandern …….

Ich habe die Wanderung mit dem DAV Summit Club gemacht. Allein hätte ich sie mir als Alpenneuling nicht zugetraut. (Wer mehr über die genaue Route, die Tageseinteilung, die Besonderheiten mit dem DAV wissen will, gehe zu Alpenverein Krefeld. Dort hat eine erfolgreiche Wanderkameradin vor 5 Jahren genau die gleiche Tour – sogar beschützt und angetrieben vom gleichen Bergführer, Gustl Rothkopf – sehr schön und ausführlich beschrieben. Nur das Wetter war damals besser gewesen! – Danke Ingrid.)

Am Sonntag, 7. August, stehen 13 Wander/innen auf dem Marienplatz, im Regen. Am Ende der ersten Wanderwoche sind davon noch 7 übriggeblieben; die erste Wanderin, die auch ihr Traumziel Venedig hatte erstürmen wollen, schlägt sich schon nach 1 1/2 Tagen in die Büsche. Dafür bleibt uns der Regen treu. In den ersten 2 Wochen kommen wir aus unseren nassen Regenklamotten (Goretex usw. hin und her) nicht heraus, in den kalten Hüttenunterkünften trocknet nichts. Dagegen ist das eigentliche Laufen, Steigen, Klettern, Hinunterschlittern trotz aller Anstrengungen geradezu eine Lust.

Nach jeder Wanderwoche wiederholt sich das Ritual: einige Bergkameraden scheiden aus, einige kommen neu hinzu. Nur noch 5 von uns wollen den gesamten Weg bis Venedig erlaufen. Der Regen wird durch Schnee abgelöst, am 9. Wandertag kämpfen wir uns durch Schneesturm und viel Neuschnee, der die Markierungen zudeckt und uns eine Weile herumirrren läßt. Auch am nächsten Tag schlittern wir durch viel Neuschnee zum Friesenberghaus. Schönes Bild: vor der imposanten Fels- und Schneekulisse an der Hütte weht die Berliner Fahne (sentimentales Heimatgefühl; die Hütte mit ihrer sehr interessanten Geschichte wird betreut von der Berliner Sektion des DAV).

Am nächsten Tag wieder in den Schnee hinaus, der “Berliner Höhenweg” ist mehr Stolpern und Jeden-Tritt-Ertasten als entspanntes Umherblicken. Nur ab und zu reißen Nebel- und Wolkenschleier auf und geben eine atemberaubende Naturkulisse frei. Aber am Abend ist Italien erreicht, am Pfitscherjoch-Haus, und Hoffnung macht sich breit auf sonnigeres Wetter. Aber ein paar Tage Regen müssen wir noch durchstehen. Wir wandern auf die Dolomiten zu.

In der Schlüterhütte – noch in der Nähe von Brixen – (die Geißlerspitzen direkt hinter der Hütte, nur sehen wir sie nicht, jede Umgebung verschwimmt in Regenschleiern) habe ich mein schönstes Erlebnis: Tropfnaß alle Klamotten, der Rucksack, die Schuhe, eine einzige Dusche mit ewigen Wartezeiten, die Hälfte unserer Gruppe schnieft und hustet (wer hat am Ende unserer Wanderung eigentlich keine Erkältung gehabt?). Müde schleiche ich durch den Eingangsraum, ein Neuankömmling schält sich gerade aus den Regensachen. Den/die kenne ich doch? Da lacht sie mich an: meine Liebste Dagmar, die ich erst in 2 Wochen in Venedig treffen will und die gerade eine eigene Wanderreise in den Sarntaler Alpen begonnen hat. Riesenüberraschung! Sie hat den Weg auf die Dolomitenseite und hoch zur Schlüterhütte nur gemacht, um mich zu sehen. 2 Stunden Freude und Erzählen bleiben uns, dann muß sie wieder raus in den Regen und die Dämmerung. Ciao, bis Venedig, und hoffentlich in Sonne!

Jetzt wird das Wetter tatsächlich besser und besser, und die Dolomiten mit ihren riesigen Felsplateaus überwältigen uns alle. Noch einmal Schnee auf dem Piz Boé (eine unserer beiden 3000er-Besteigungen). Alles wird gleich leichter und fröhlicher, wiewohl nicht weniger anstrengend. – Die größte Anstrengung liegt noch vor uns, der schwierige Klettersteig an der Marmolscharte/Schiara. Einige von uns umgehen den steilen Kletterabstieg auf gemächlicheren Wanderwegen. Wir anderen (7) wagen uns mit der geliehenen Kletterausrüstung (ohne ist nicht!) und nach Kurzeinweisung durch Gustl an die z. T. senkrecht abfallende Wand. Das ist das gefährlichste Stück unserer Alpenüberquerung. Wer noch nie – wie ich – einen größeren Klettersteig bewältigt und kaum knowhow zur Verfügung hat, für den ist der Abstieg fahrlässig, und es kann schon Augenblicke gelinder Verzweiflung geben: Nicht nur die stundenlange konzentrierte körperliche Anstrengung, auch die ständige mentale Herausforderung, sofort auf etwas Unbekanntes, nie Erlebtes zu reagieren, reagieren zu müssen, schaffen eine ganz außergewöhnliche Anspannung. Gustl turnt mit den 3 Frauen weit voraus, so kann er weder helfen noch Hinweise geben. So “ausgesetzt” habe ich mich selten gefühlt. (Aus meinem Tagebuch: Trotzdem ist es auch ein Freisein, Entscheiden, kein Zurück möglich, Adrenalin für Kopfmenschen, stärkstes Rendez-vous mit Stein, Fels, Berg, Tiefe.) Nach ca. 4 1/2 Stunden wieder “begehbarer” Boden unter den Füßen.

Danach ist alles leicht, das hübsche Belluno (alle wollen gelato) liegt unter uns, dann Tarzo, alles und alle sind beschwingt, Tendenzen zum Auseinandertreiben, dann schon Venedig im herrlichsten Sonnenschein. Fotos auf dem Markusplatz, das letzte Mal mit Kletterklamotten und Rucksäcken (meine Bergschuhe habe ich in Tarzo gelassen: sie haben mich genug getragen). Die Gruppe löst sich in Grüppchen auf, die meisten denken an zuhause, es war eine lange Zeit, und ein sehr langer Weg. Für mich dagegen fängt, wie mit einem Klick im Gehirn ausgelöst, jetzt eine neue Reise an: die Welt Venedig.

Die Abschiede:
Durch den wöchentlichen Wechsel von Bergkameraden gab es viele Begegnungen, Gespräche, Austausch. Vieles mußte der kurzen Zeit und den Wanderbedingungen geschuldet oberflächlich bleiben, anderes – das spüre ich jetzt – hat Wurzeln bekommen. Aber alle Begegnungen waren gut und kameradschaftlich. Daß wir 5, die wir von München bis Venedig durchhielten, ein eigenes Grüppchen in der Gesamtgruppe bildeten, ist verständlich. Aber es wurde darüber hinaus eine freundschaftliche Gemeinschaft: die beiden Paare und ich Einzelner. Danke Lisa und Horst, danke Irmin und Roland.

Gustl, unser Bergführer:
In anderen Situationen, weit weg von den hohen Bergen, hätte ich mich mit ihm sicher oft gefetzt. Aber Gustl ist kein Mann zum Fetzen, zum Diskutieren, zum Argumentieren. Das hat es anfangs für mich schwierig gemacht: da zieht einer “seine Sache” durch, wie er sie versteht und will. Und von den Bergen versteht er unendlich viel. Und seine enorme Fitness, seine Überlegenheit in allem, was die Berge betrifft, habe ich bewundert. Aber erst, als ich mir sagte, Gustl ist wie die Berge, durch/über die du läufst, mit denen kannst du auch nicht diskutieren, eine andere Route, ein anderes Tempo vorschlagen: nimm ihn wie die Berge. Wie ein Naturereignis, mit dem du umgehen mußt. Dann ging’s gut (für mich).

Der Flachländer, Großstädter:
Die lange Wanderung war ein WEG, und ein TUN. Es war richtig, daß sie so lang war. Ein Stück nur davon (1 Woche z. B.) hätte mir wenig gebracht. Es war auch – das spürte ich danach immer stärker – eine große Meditation. Es war – mit allen Begegnungen und Begebenheiten – eine große Begegnung. Mit einer Natur (mitten in Europa!), die mir einen anderen Platz zuweist als den, den wir in all unseren Gehäusen sonst einnehmen.

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